Die unten von mir gemachten Ausführungen zur Mediengewalt & Medienrezeption dienten der Vorbereitung zu einer meiner Examensprüfungen. Da sie anfänglich nur zu meinem persönlich Nutzen gedacht waren, ist es mir im nachhinein nur schwer möglich gewesen präzise Literaturangaben innerhalb der Ausführungen zu machen. Ich hoffe, dass das Material trotzdem nützlich ist.

 

Mediengewalt & Medienrezeption

- Vorurteile und Alltagstheorien vs. empirischen Befunden -

 

1. Einleitung

2. Die Alltagstheorie

2.1 Kognitive Struktur der Alltagstheorie

2.2 Gründe für die Attraktivität und Dominanz der Alltagstheorie

3. Wissenschaftliche Forschungsansätze.

3.1 Der Rezeptionsprozess – Erkenntnisse aus der strukturanalytischen Rezeptionsforschung

3.1.1 Bedeutung des Rezeptionsprozesses für die Persönlichkeitsentwicklung

3.1.2 Die vier Schritte des Rezeptionsvorgangs

3.2 Inhaltsanalytische Untersuchungen – differenzierte Wahrnehmung in Bezug auf das Alter, Geschlecht & Schulbildung

4. Wirkung & Bedeutung von Gewaltdarstellungen in den Medien

4.1 Stellenwert der bekannten Wirkungsthesen in der heutigen Forschung

4.1.1 Aggressionsminderung !? – Ergebnisse von Jürgen Grimm (1999)

4.1.2 Stimulations-, Suggestions- und Habitualisierungsthese

4.1.3 Fernsehgewalt - Lernen am Modell

4.2 Welches Resümee lässt sich ziehen?

 

 

1. Einleitung

Die gängige, populäre Meinung in Bezug auf die Rezeption und die Wirkung von Fernsehsendungen auf Kinder unterscheidet sich in der Regel deutlich von der in der Wissenschaft vertretenen Meinung und deren empirischen Ergebnissen.

Eine in der Öffentlichkeit weitverbreitete Theorie ist, dass die Fernsehrezeption ein passiver Vorgang sei und Gewaltdarstellungen im Fernsehen eine stimulierende Wirkung auf eine Vielzahl von Kindern haben, womit eine steigende Gewaltbereitschaft unter Kindern und Jugendlichen erklärt wird.

Dieser Alltagstheorie, insbesondere der schädlichen Auswirkung von Fernsehgewalt auf Kinder, stimmen in Umfragen regelmäßig über 2/3 der Bevölkerung zu.[1]

Unter den Wissenschaftlern ist Werner Glogauer einer der Letzten, der diese Alltagstheorie mit unnachgiebiger Beharrlichkeit in Wort und Schrift seit den 50er Jahren[2] bis heute vertritt und kann somit als Kronzeuge für die kognitive Struktur der Alltagserklärung dienen.

Im Folgenden stelle ich sowohl die kognitive Struktur dieser Alltagserklärung dar, als auch die unter den anerkannten Medienwirkungsforschern vertretene Position zur Wirkung von Mediengewalt auf Kinder. Dabei ist es zum einen nötig, die Gründe aufzuzeigen, weshalb auch heute noch die Alltagstheorie (Stimulationsthese) die öffentliche Meinung so maßgeblich beeinflusst und andererseits auf der theoretischen Grundlage der neueren Rezeptionsforschung (handlungsorientiert, strukturanalytisch) zu belegen, dass differenziertere Erklärungen nötig sind, um die Auswirkungen von Mediengewalt zu beschreiben.

Vorweg sei erwähnt, dass es so gut wie keinen Wissenschaftler mehr gibt, der Fernsehgewalt als gefahrlos ansieht (Ausnahme: William McGuire => Autofahren, Alkohol, Geschlechtsverkehr und Kirchgang ist gefährlicher als Mediengewalt) oder sogar als Notwendigkeit (Bettelheim vertrat die Meinung, dass Kinder Fernsehgewalt konsumieren müssten, jedoch im Beisein der Eltern).

Dies ist wichtig zu erwähnen, da es bei diesem Thema immer wieder zu einer Polarisierung in zwei Fraktionen kommt:

1.  Position: „Fragezeichenfraktion“ - durch Relativierungen und immer wieder neue Fragen, wird versucht jeder Antwort die Glaubwürdigkeit zu nehmen => es gibt keinen Beweis für die Gefahr von Mediengewalt

2.  Position: „Ausrufezeichenfraktion“ - ein einmal gefasstes Urteil zu untermauern, egal welche Einwände kommen => Mediengewalt muss reale Gewalt nach sich ziehen[3]

 

Die folgenden Ausführungen werden zeigen, dass es noch viele Fragen zu klären gibt und mit vielen der mittlerweile über 5000 Untersuchungen zur Wirkung von Mediengewalt sehr vorsichtig umgegangen werden muss. Dennoch lassen sich mehrere abgesicherte Aussagen über die Wirkung von Mediengewalt, insbesondere auf Kinder, treffen.

Deshalb liefern die folgenden Ausführungen nicht nur Wirkungsbefunde zur Gewalt-in-den-Medien-Diskussion, sondern sind gleichsam als ein Plädoyer für differenzierte Antworten zu verstehen.

 

2. Die Alltagstheorie

2.1 Kognitive Struktur der Alltagstheorie

Zunächst jedoch zur kognitiven Struktur der Alltagstheorie:

Einer der letzten populäre Fälle, in dem wieder auf die Alltagstheorie zurückgegriffen wurde, stellt das Massaker von Littleton (USA) vom 20. April 1999 dar, als zwei Jugendliche 12 High-School Mitschüler und einen Lehrer ermordeten und sich anschließend durch Kopfschüsse selbst töteten. Computerspiele, Haß-Musik und Gewaltfilme sind sofort als Schuldige, neben den dortigen Waffengesetzen, ausgemacht worden.

Gleiches gilt für die Ermordung des zweijährigen James Bugler, der von zwei Jugendlichen 1993 aus einem Liverpooler Einkaufszentrum entführt wurde und später von diesen grausam getötet wurde. Dieser Mord wies Ähnlichkeiten zu einem Mord aus dem Horrorfilm „Child’s Play 3“ (aus der Chucky-Reihe) auf. Für den „Spiegel“ wurde die Wirkung des Films hinsichtlich dieses Verbrechens zur dokumentarischen Gewissheit: „Das Video ‚Child’s Play 3’ verwirrte die zehnjährigen Robert Thompson und Jon Venables so, dass sie den zweijährigen James Bugler umbrachten.“ So lautete eine einschlägige Bildunterschrift in der letzten Ausgabe des Jahres 1993 (Nr. 52, vom 27. Dezember 1993, S. 143). Dabei versicherte Jon Venables’ Vater wiederholt, dass sein Sohn den ausgeliehenen Film nicht gesehen hätte und auch im Prozess konnte nichts dergleichen bewiesen werden.[4]

Auch in Deutschland hat es 1999 Vorfälle gegeben, die mit Hilfe der Theorie der Alltagskognition in der Öffentlichkeit erklärt wurden.

- Eines war/ist allen Fällen gemeinsam. Um eine Erklärung für diese wahrlich grausamen Verbrechen zu finden musste schnellstmöglich ein Schuldiger gefunden werden.

An den gerade angeführten Beispielen lässt sich ein Konnex von vier speziellen Merkmalen der Alltagstheorie aufzeigen, auf die immer wieder zurückgegriffen wird: [5]

1.  monokausal - d.h., eine einzige Ursache hat eine einzige Wirkung, bzw. ein Phänomen hat eine einzige Ursache. Hier: Die Seelen der Kinder werden durch die Medien vergiftet. Wird ihnen dieses Gift entzogen, so sind ihre Seelen wieder unschuldig. Deshalb rät Glogauer allen Eltern „den Konsum von Mediengewalt durch ihre Kinder einzuschränken (und) am besten völlig zu verhindern.“[6]

2.  unmittelbar - d.h., die Gewalthandlungen folgen der Rezeption von Gewalt ohne Zeitverzug und Zwischenschritt.

3.  linear - d.h., je größer die unabhängige Variable - hier die Rezeption von Gewaltdarstellungen -, desto größer auch die abhängige Variable - hier die Gewalthandlung. (Glogauer (1990): „Je häufiger sich ein Kind ... brutalen Medien aussetzt, desto größer ist seine Bereitschaft selbst Gewalt anzuwenden und sie bei Konflikten einzusetzen.“[7])

4.  symmetrisch - d.h., Ursache und Wirkung sind durch augenfällige Ähnlichkeiten verbunden, zum Beispiel, dass die dargestellte Gewaltszene in der realen Handlung imitiert wird. (Glogauer führt verschiedene Beispiele an, wo Jugendliche eine in den Medien gesehene Tötungsart nachahmen. Von daher ist auch die Konzentration der Debatte auf Horror und Action-Videos zu erklären, da die Merkmale der Alltagserklärung dabei besonders gut greifen - besonders eben auch die Annahme einer Symmetrie von Ursache und Wirkung.)

ð   Somit erhält die Alltagserklärung eine enorme Eingängigkeit und Einprägsamkeit.

 

2.2 Gründe für die Attraktivität und Dominanz der Alltagstheorie

Warum ist dieses Erklärungsmodell so attraktiv und warum beherrscht nach wie vor die Stimulationsthese mit ihrem simplen Reiz-Reaktionsschema die öffentliche Diskussion und das allgemeine Denken?

Drei wesentliche Gründe:[8]

1.  Der wichtigste ist, dass sie kognitiv außerordentlich attraktiv ist. Sie ist unmittelbar verständlich, weil die Erklärung mit wenigen Faktoren auskommt und diese in einer Weise verknüpft, die festeingefahrene Heuristiken, den Faustregeln der Kognition, entspricht. So setzt die Analogisierung von Ursache und Wirkung auf der Assoziationsheuristik auf. (Vowe 1994)

2.  Die Attributation auf „die Medien“ ist aus moralischer Warte hoch interessant, weil es eine klare Trennung von Gut und Böse ermöglicht. Mit der Stimulationsthese hat das Böse seinen Platz und einen Namen. Es ist befriedigender, „den Medien“ Schuld zuzuweisen, als „gesellschaftlichen Strukturen“, „Gruppenprozessen“, „Erziehung“, „Politik“ oder gar ein Zusammenwirken aller dieser Faktoren. Dadurch wirkt die Stimulationsthese entlastend - unmittelbar für Eltern und Pädagogen, aber eben auch für Politiker.

3.  Die Stimulationsthese ist von hoher pragmatischer Attraktivität. Sie bietet wie keine zweite These Handlungsmöglichkeiten an. Ihr folgend kann man Forderungen stellen, Programme ausarbeiten, Maßnahmen kontrollieren. Der Verweis auf die Medien lenkt das öffentliche Augenmerk von anderen Faktoren ab, und auch der Wettstreit zwischen den Medien spielt eine Rolle.

 

ð   Die Stimulationsthese ist also in mehrerer Hinsicht hoch attraktiv - sie ist dadurch öffentlich stark präsent. Dadurch ist sie ein Faktor von sozialer und politischer Bedeutung, mit der agiert und auf den reagiert wird.

 

3. Wissenschaftliche Forschungsansätze

Trotz der Attraktivität der Stimulanzthese hat sich die Forschung von den Strukturen der Alltagskognition entfernt. Dies ist nicht zuletzt auf die neueren Forschungsergebnisse in der Rezeptionsforschung zurückzuführen.

In der klassischen Wirkungsforschung, sowohl in Bezug auf Medien im Allgemeinen, als auch speziell auf Mediengewalt, konnte die Prognosefähigkeit bisher als mangelhaft beschrieben werden. Mittlerweile gibt es nach Schätzungen zu urteilen über 5000 Studien zu diesen Themengebieten,[9] die sich dadurch auszeichnen, dass sie sich gegenseitig widersprechen bzw. langfristig keine allgemeingültigen Schlussfolgerungen zulassen. Innerhalb vieler Studien werden Kausalketten willkürlich unterbrochen oder einseitig gedeutet, „während im Grunde genommen genauso gut der Umkehrschluss gezogen werden könnte. So ist es nicht selten, dass Isolation und Passivität dem hohen Fernsehkonsum angelastet werden, während es vielleicht Isolation und Passivität sind, welche erst den Konsum verursachen.“[10]

An diesem Beispiel wird deutlich, dass es trotz unzähliger Untersuchungen immer noch schwer ist einen Konsens in der Diskussion über Ursache und Wirkung von Medieninhalten zu finden. In Bezug auf die Wirkung von Gewalt weist Walter Nutz auf diese Ursache-Wirkung-Problematik hin: „Wird die Realität geändert, ändert sich auch die Fiktion. Dies weiß man schon lange, nur man will es aus vielerlei Gründen nicht wahrhaben.“[11]

Nicht die Formen von Mediengewalt seien die Ursache für steigende Gewalt, sondern die Realität bestimme, wie sich die fiktive Medienwelt verändert.

 

Seit den 80er Jahren gibt es qualitative Untersuchungsansätze zur Rezeptions- und Wirkungsforschung. Damit entwickelte sich aus einem medien-zentrierten Modell (Was machen die Medien mit den Menschen?) ein publikums-zentriertes Modell. Erstmals rückten Fragestellungen in den Mittelpunkt, in denen der aktive Rezipient in das Zentrum der Wirkungsfrage gestellt wurde. Die ersten Ansätze, die sich auf den aktiven Rezipienten bezogen, waren der Nutzen-Ansatz (uses and gratifications) und die Ethnomethologische Rezeptionsforschung.

In der subjektiven Zuwendung, Nutzung, Wahrnehmung, Verarbeitung und Bewertung von Medieninhalten wird die entscheidende Grundlage für mögliche Medienwirkungen gesehen.“[12] (Theunert)

Der Nutzen-Ansatz vernachlässigte noch die Bedeutungszuweisung hinsichtlich rezipierter Medieninformationen, die subjektive Interpretation durch die Rezipienten und den sozialen (Rezeptions-)Rahmen, der die Beweggründe für die Rezeption maßgeblich mitgestaltet. Dies änderte sich jedoch im Zuge der strukturanalytischen Rezeptionsforschung.

 

3.1 Der Rezeptionsprozess – Erkenntnisse aus der strukturanalytischen Rezeptionsforschung

Auch beeinflusst durch den handlungsorientierten Ansatz, der die Medienrezeption als eine Form sozialen Handelns begreift, haben Charlton/Neuman(-Braun) den strukturanalytischen Ansatz entwickelt.

Durch die Analyse von Fallstudien wird versucht jene Regeln zu verstehen, die Handlungen und Interaktionen und somit auch Wirkungen hervorrufen. Der wesentliche Unterschied dieses Ansatzes gegenüber früheren ist es, mit der Methodik der Einzelfallanalyse zu verallgemeinernden Aussagen zu gelangen. Diese Vorgehensweise ist oftmals kritisiert worden, da über eine subjektivistische Interpretation hinaus eine objektive Absicherung der Resultate erhalten werden soll.[13]

Charlton/Neuman entgegnen dieser Kritik, indem sie die Objektivität ihrer Untersuchungen auf den sozialwissenschaftlichen Handlungsbegriff zurückführen, in dem Handlungen als „Interpretationskonstrukte“ angesehen werden. „Sie (Handlungen) können immer nur unter Bezug auf die Interpretationspraxis der Kommunikationsgemeinschaft erklärt werden. Auch Handlungsgründe sind nach dieser Auffassung keine Ereignisse, die eine Handlung kausal verursachen können, sondern gesellschaftliche Interpretationen. Eine Handlungserklärung ist dann „objektiv“, wenn sie aus der Sicht des „verallgemeinernden Anderen“ zutreffend ist.“[14]

Im Rahmen der strukturanalytischen Rezeptionsforschung wird es als wichtig erachtet, dass es einen langfristigen Untersuchungszeitraum gibt und dass auf Querschnittanalysen (speziell mit Laborcharakter) verzichtet wird, da diese den komplexen Forschungsfragen nicht gerecht werden und keine prozessualen Veränderungen erkennbar werden.

Auf dieser Grundlage können drei Bedeutungsebenen für die Medienrezeption analysiert werden:[15]

1.   die Bedeutung der Medien für die Lebensbewältigung und zur Identitätsbildung und -wahrung unter dem Aspekt der Mediensozialisation;

2.   die Einbettung der Medienrezeption in einen situativen und kulturellen Kontext als den strukturellen Aspekt der Rezeption;

3.   die Auseinandersetzung des Rezipienten mit einem Medienangebot als der prozessuale Aspekt der Rezeption.

 

3.1.1 Bedeutung des Rezeptionsprozesses für die Persönlichkeitsentwicklung

Charlton/Neumann haben eine Vielzahl ihrer Untersuchungen mit Vorschul- und Grundschulkindern durchgeführt. In ihren und anderen empirischen Untersuchungen konnte nachgewiesen werden, dass die Rezeption thematisch voreingenommen geschieht.

Mit dem Begriff des Themas wird sich auf ein Konzept aus der Persönlichkeitspsychologie bezogen. Themen stellen sich z.B. in verschiedenen Lebenssituationen ein, wenn notwendige Entwicklungsaufgaben gelöst werden müssen, diese Lösung aber noch aussteht. Solche Themen können etwa Handlungsentwürfe oder Selbstbilder sein („Groß sein wollen“ oder „Geborgenheit suchen“).

Ein Thema ist handlungsleitend, da es diesen Bedürfnissen Ausdruck verleihen will. Die Folge ist, dass das Kind thematisch voreingenommen in die Rezeptionssituation geht, d.h. es versucht selbst in der Rezeptionssituation (beim Vorlesen auf dem Schoß des Vaters Geborgenheit finden) oder in den Medieninhalten (stark wie He-Man sein) eine Szene zu finden, die das Thema symbolisch repräsentiert.

Da die Bewältigung von Themen für die Persönlichkeitsentwicklung - oder sozialisationstheoretisch gefasst: für die Identitätsbildung - von entscheidender Bedeutung ist, wird im Ansatz der strukturanalytischen Rezeptionsforschung die Mediennutzung nicht (nur) unter einem negativen, sondern auch unter positiven Gesichtspunkten gesehen. Die unterschiedlichen Medienthemen können - müssen aber nicht - dem Kind in der Bewältigung seines Themas behilflich sein.[16] Das Ergebnis der Auseinandersetzung mit dem Rezeptionsgeschehen stellt daher eine mehr oder weniger bewusst reflektierte Spiegelung der eigenen Lebenssituation an den medialen Geschichten und Deutungsmustern dar. Diese subjektiven und unterschiedlichen Herangehensweisen von Kindern an Medien und ihren Inhalten gelten auch in Hinblick auf Mediengewalt und müssen beachtet werden, wenn Wirkungsaussagen getätigt werden.

 

3.1.2 Die vier Schritte des Rezeptionsvorgangs

Die Phase der thematischen Selektion ist einer von vier Schritten, die den Rezeptionsvorgang bzw. die Rezeptionsleistung nach Charlton beschreiben: [17]

1.      Schritt: Die Gestaltung der sozialen Situation, dass eine Medienauseinandersetzung möglich ist.

Dabei ändert die Aufnahme der Mediennutzung (Fernsehen, Buch) die soziale Situation grundlegend. Dieser Vorgang ist oft ein entscheidendes, nicht immer bewusstes Motiv zum Mediengebrauch.

Groebel: „Medienerlebnisse werden gesucht, weil sie leichter herzustellen sind als vergleichbare reale Situationen, weil sie eine höhere Intention und Dichte haben können und nicht zuletzt, weil sie risikoloser sind.[18] (Medienauseinandersetzung = Sonderform sozialen Handelns)

2.      Schritt: Phase der thematischen Selektion, zu Beginn und während des Rezeptionsprozesses (siehe oben 3.1.1).

3.      Schritt: Die eigentliche Rezeptionsleistung

Hier spielen die Rezipienten mit ihrer emotionalen Distanz gegenüber dem Medienangebot und deren Inhalten. Es wird ein Involvement gesucht, das eine optimale Anregung zulässt, ohne jedoch die eigene Gefühlsbalance zu gefährden.

Somit kann es zu einer selektiven Aufmerksamkeitsverteilung kommen, bishin zur Unterbrechung und eines Abbruchs der Mediennutzung. Dabei ist die Auseinandersetzung mit dem Medienangebot, die das eigentliche Lesen oder Betrachten erfordert, noch nicht abgeschlossen.

Charlton/Neumann können in Bezug auf die Wirkung feststellen, dass ein Medium nur wirken kann, wenn sich ein Kind darauf einlässt.

4.      Schritt: Nutzbarmachen des Rezipierten für die eigene Lebensführung

Dieser Punkt muss in Verbindung mit der thematischen Voreingenommenheit betrachtet werden. Häufig aber nicht notwendigerweise wird das Nutzbarmachen von Medieninhalten durch personale Kommunikation unterstützt.

 

Diese vier Punkte charakterisieren die Schritte eines Rezeptionsprozesses. Dabei wird hier schon deutlich, dass der Rezeptionsprozess von einer Vielzahl individueller und subjektiver Faktoren abhängig ist. Bestätigt wird diese Tatsache durch inhaltsanalytische Untersuchungen zum Fernsehnutzungsverhalten von Kindern und Jugendlichen.

 

3.2 Inhaltsanalytische Untersuchungen – differenzierte Wahrnehmung in Bezug auf das Alter, Geschlecht & Schulbildung

In Umfragen und statistischen Erhebungen werden Kinder zwischen 3 und 13 Jahren oft in einer Gruppe zusammengefasst, obwohl es innerhalb dieser Gruppe ein stark variierendes Nutzungsverhalten gibt.

Insbesondere in Bezug auf das Alter, das Geschlecht und die Schulbildung lassen sich signifikante Unterschiede herausstellen.

Zuvor sei erwähnt, dass den Kindern insgesamt ein großes Programmangebot zur Verfügung steht (990 explizite und 450 implizite Kindersendungen pro Woche im Jahr 1996). Die durchschnittliche Nutzungsdauer ist in den letzten 10 Jahren kaum angestiegen; variiert aber innerhalb der Rezipientengruppen sehr stark.

Fernsehkonsum im Jahr

Kinder (3-13 Jahren)

Æ Sehdauer

1986

93 min.

1990

87 min.

1995

95 min.

1996

101 min.

1997

95 min.

(Quelle: AGF/GFK Fernsehforschung/PC#TV/ProSieben Media)

 

Das Programm ist trotz der Vielzahl von Sendungen einseitig und vor allem an den Interessen und Bedürfnissen der Jungen angelehnt. Es gibt kaum starke Frauenfiguren, sondern fast nur männliche Protagonisten. Der beliebteste Figurentyp im beliebtesten Genre der Kinder (Zeichentrickfilme) stellt der „liebenswerte Chaot“ dar und nicht wie oft angenommen der „überlegene Retter“ (z.B. He-Man).

An diesem Beispiel kann gezeigt werden, wie unterschiedlich Medieninhalte beurteilt werden:

1.      Mädchen lehnen die Figur des „überlegenen Retters“ in der Altersspanne von 7-14 Jahren konsequent zu 80% ab.

2.      Jungen zwischen 7 und 10 Jahren akzeptieren diesen Figurentyp zu 50%, wobei er auch in dieser Altersgruppe gleichzeitig am Unbeliebtesten ist.

3.      In der Gruppe der 11-bis 14jährigen Jungen wird He-Man bzw. der überlegene Retter genauso wie bei den Mädchen zu 80% abgelehnt.

4.      Sowohl bei Gymnasiasten als auch bei Hauptschülern ist der Figurentyp des überlegenen Retters am Unbeliebtesten. Gymnasiasten lehnen ihn jedoch doppelt so häufig ab, wie die Hauptschüler.[19]

Die Auswahl, Nutzung und Bewertung von Medieninhalten ist somit von mehreren Faktoren abhängig.

Eine relativ große Beliebtheit des überlegenen Retters bei den 7-bis 10jährigen Jungen lässt sich möglicherweise darauf zurückführen, dass bestimmte Jungen dieses Alters im Rahmen ihrer Identitätsbildung den Wunsch nach Stärke verspüren und sich mit dieser thematischen Voreingenommenheit z.B. für He-Man entscheiden.

 

Auch in Bezug auf die Wahrnehmung und Beurteilung von Gewalt lassen sich differenzierte Aussagen treffen:

Kinder nehmen größtenteils physische Gewalt wahr. Strukturelle Gewaltformen sind für Grundschulkinder insgesamt nicht begreiflich und werden auch nicht in ihren bevorzugten Sendungen dargestellt. Ihre Wahrnehmung von Gewalt bezieht sich sowohl in der Realität als auch in den Medien meistens auf Formen physischer Gewalt. Je größer die Anzahl von physischen Gewaltdarstellungen in der Erzählstruktur ist, desto weniger erkennen Kinder und Jugendliche psychische Gewalt. Diese bemerken sie nur, wenn sie in der Realität selbst von psychischer Gewalt betroffen sind.[20] Dabei wird Gewalt vor allem dann abgelehnt, wenn Opfer drastischen Schaden erleiden.

In den meisten fiktiven Sendungen werden die Gewaltakte jedoch sehr unrealistisch dargestellt: Die Akteure sind sich fremd, wobei einer der Angreifer stark dominiert. Dabei wird jedoch häufig kein Blut oder Leiden gezeigt. Die Protagonisten sterben selten eines natürlichen Todes und Gewalt wird als effektives Mittel zur Konfliktlösung dargestellt; sowohl vom Guten als auch vom Bösen Protagonisten.[21]

 

Mädchen nehmen Gewaltdarstellungen früher wahr als Jungen (Mädchen/Frauen = Opferrolle – Jungen/Männer = häufig Täter). Dabei haben die Kinder eine eigene Gewaltschwelle. Oberhalb dieser Schwelle kann dies zu Ablehnung, Verunsicherung und Angst führen, besonders bei drastischen Folgen und realitätsnahen Kontexten. Liegen die Gewaltdarstellungen unterhalb dieser persönlichen Gewaltschwelle berührt sie das kaum, sondern sie haben sogar Spaß daran (Zeichentrickfilme, Gewalt im Sinne des Guten (z.B. Actionfilme).[22]

Je realistischer ein Film von Kindern beurteilt wird, als desto violenter wird er auch empfunden.

 

4. Wirkung & Bedeutung von Gewaltdarstellungen in den Medien

Sowohl die Erkenntnisse aus der strukturanalytischen Rezeptionsforschung als auch aus den inhaltsanalytischen Untersuchungen zeigen auf, dass die Rezeption/Wirkung von Medieninhalten von einer Vielzahl von Faktoren abhängig ist. Daher können auch in Bezug auf die Rezeption und Wirkung von Gewaltdarstellungen keine verallgemeinernden Aussagen getroffen werden. Anders formuliert: Die Forderung nach der einen Theorie der Medienwirkung ist nicht erfüllbar, wie sie oftmals von Politikern und der Öffentlichkeit gefordert wird. Deshalb sind pauschale und als allgemeingültig dargestellte Aussagen wie von Werner Glogauer (1990): „Je häufiger sich ein Kind ... brutalen Medien aussetzt, desto größer ist seine Bereitschaft selbst Gewalt anzuwenden und sie bei Konflikten einzusetzen.“[23], wissenschaftlich unhaltbar.

Des weiteren wird der Universitätsprofessor Glogauer im „Spiegel“ (1991, Nr. 17, S.101 und (Der Spiegel, 2, 1993, S.169)[24]) auch mit den Worten zitiert: „Mindestens jedes zehnte Verbrechen, das Jugendlichen angelastet wird, geht eigentlich auf das Konto der Medien.“[25] Dabei handelt es sich um eine weitere definitiv unzutreffende Aussage!

 

Generell gibt es als Ursache für das Erscheinen von Gewalt drei gängige Modelle:[26]

1.  Aufgrund der menschlichen Natur gibt es einen Trieb, der durch endogene Faktoren aktiviert wird.

2.  Aggression entsteht aufgrund von Frustration bzw. emotionaler Erregung in bestimmten Situationen.

3.  Aggression wird durch Lernprozesse hervorgerufen.

 

Solange es Gewaltdarstellungen in den Medien gibt, existieren auch Thesen über die Wirkungsweise von diesen Gewaltdarstellungen. Diese Thesen, die im Folgenden kurz erläutert werden, haben alle eines der drei Modelle als Grundlage, wobei besonders dem Lernen aggressiven Verhaltens durch Fernsehgewalt viel Beachtung geschenkt wird.

 

4.1 Stellenwert der bekannten Wirkungsthesen in der heutigen Forschung

Thesen, wie die Kartharsis- und Inhibitionsthese, werden unter Wissenschaftlern nicht mehr vertreten. Die Kartharsisthese geht von einer Senkung der Aggressionsbereitschaft aus, indem gewalthaltige Filme gesehen werden. Diese These wird - wenn überhaupt - nur noch von der Werbe- und Fernsehindustrie vertreten. Laut Kunczik ist sie aber die einzige These, die in jedem Punkt eindeutig empirisch widerlegt werden kann.

Ähnlich verhält es sich bei der Inhibitionsthese, bei der davon ausgegangen wird, dass der Zuschauer durch den Konsum von Gewaltfilmen verängstigt wird, und aus Angst vor den Folgen von Gewalt eine Aggressionsminderung auftritt. Da es aktuelle Untersuchungen über die Wirkung von Kampfsportfilmen gibt, die eine Aggressionsmiderung kurzfristig stützen, kann sie nicht als vollständig widerlegt betrachtet werden.[27] Insbesondere Jürgen Grimm hat aufwendige Untersuchungen hierzu durchgeführt. Seine wichtigsten Ergebnisse seien hier kurz wiedergegeben:

 

4.1.1 Aggressionsminderung !? – Ergebnisse von Jürgen Grimm (1999)

Die Mehrzahl der Wirkungen von Spielfilmgewalt folgen der Logik negativen Lernens (Gegenteil von Vorbildlernen). Im Bereich der Gewaltdarstellungen beinhaltet negatives Lernen Gewaltkritik, Abbau von Gewaltrechtfertigung und Gewaltbereitschaft, kurz Antiviolenz.

Zu einer selektive Violenzsteigerung kann es kommen, wenn ein identifikationsträchtiges Opfer am Ende steht. Eine offene Gewaltspirale mit einem aus Zuschauerperspektive inakzeptablen Opfer am Ende des Spielfilms beinhaltet das größte soziale Wirkungsrisiko. Dabei wird das Umschlagen von Angst in Aggression gefördert. Dem Opfer soll Genugtuung verschafft werden, so dass der Rezipient die Rolle der „Strafgewalt“ übernimmt mit dem Anspruch einer überlegenen Moral (=> Maximilien de Robespierre). Grimm spricht daher von dem Robespierre-Affekt. Der Robespierre-Affekt ist die nichtimitative Form filmischer Aggressionsvermittlung, die durch dramaturgische Defizite ermöglicht und über moralische Empörung der Rezipienten ausgelöst wird.

Bei Jugendlichen ergab sich kein jugendtypischer Aggressionseffekt durch Spielfilmgewalt hervorgerufen. Unter 16-jährige erwiesen sich jedoch als besonders leicht beeinflussbar in bezug auf Toleranz, Weltbild und soziales Verhalten. Wenn Spielfilmgewalt unterschwellig sozial desorientierte Inhalte transportiert (rassisch-ethische Feindbilder, kriegsbefürwortende Argumente, rechtsradikales politisches Gedankengut), treffen diese bei Jugendlichen auf eine erhöhte Suggestibilität. Also: Tatsächliches Wirkungsrisiko ist bei jüngeren Spielfilmgewaltsehern gegeben.[28]

 

Zehn Schlussfolgerungen im Interesse des Jugendschutzes von Jürgen Grimm (potentielle Sozialschädlichkeit):[29]

1.      Das Angenehme im Rezeptionsprozess ist nicht immer das sozialethisch Gebotene; eine gewisse Beunruhigung ist durchaus erwünscht

2.      final platzierte „gute“ Gewalt => Verhinderung des Robespierres-Affekts

3.      Fatal = Bereinigung um „schmutzige“ Gewalt

4.      duale Gewaltästhetik anstreben (auch moralisch geächtete Gewalt + schlimme Opferfolgen)

5.      Die Kontextabhängigkeit ist bei der Wirkung der Filmbewertung vorrangig zu würdigen (dramatische Modelle) und nicht einzelne Bilder

6.      unterschwellige Aussagen zu sozialethisch relevanten Themen müssen mehr beachtet werden => starke Beeinflussung möglich

7.      gewaltbefürwortende Aussagestruktur vermeiden

8.      Angsterzeugung gehört zur unterhaltsamen und sozialverträglichen Gewaltästhetik

9.      Schockeffekte sind nur selten schädigend => gehören zum Angstmanagement

10.    Manche Jugendlich neigen zu verkürzter Rezeption. Mängel in der reflexiven Medienkompetenz lassen sich programmpolitisch nicht beheben

 

Grimm stellt aus seiner Untersuchung verschiedene empirisch gesicherte Ergebnisse heraus: Gerade die unangenehmen Seiten der Spielfilmgewaltrezeption sind die Basis für antiviolente Effekte, denen durch voreiliges Entfernen von Blutszenen etwa der Boden entzogen wird (Filmprüfer sollen reflexive Haltung zu eigenen Gefühlen einnehmen). Bei Fixierung auf Blutszenen werden leicht die eigentlichen Wirkungsrisiken übersehen, die in der Aussagetendenz und der dramaturgischen Struktur des Films begründet liegen.[30]

 

4.1.2 Stimulations-, Suggestions- und Habitualisierungsthese

Die gegenteilige Meinung zur Inhibitionsthese, nämlich die Förderung aggressiver Verhaltensweisen durch dargestellte Gewalt, wird mit der Stimulationsthese vertreten. Besonders der bereits erwähnte Werner Glogauer und auch Herbert Selg vertreten diese These in der deutschen Öffentlichkeit. Vermutete Zusammenhänge sind, dass bestimmte Medieninhalte den Zuschauer in einen solchen emotionalen Erregungszustand versetzen, dass, gepaart mit dem richtigen Milieu als Auslöser, aus Frustration Aggression wird.

Eine Variante der Stimulationsthese geht davon aus, dass violente Handlungen beim Rezipienten zu späteren Nachahmungstaten führen (Suggestionsthese). Einzelne Beispiele für solche Nachahmungstaten, z.B. in Form von Selbstmorden (Werther-Effekt) konnten nachgewiesen werden.[31]

Als dritte große These von Wirkungstheorien kann die Habitualisierungsthese bezeichnet werden. Dabei wird „von der empirisch abgesicherten Annahme ausgegangen, daß ein einzelner Film (...) kaum in der Lage ist , Einstellungen dauerhaft zu verändern (...).“[32] Ein regelmäßiger, langfristiger Konsum von Mediengewalt kann zu einer Abstumpfung gegenüber Gewalt führen, so dass ein „emotionaler Gewöhnungseffekt“ eintritt. Langfristig erscheint für den Rezipienten Gewalt im Alltag als eine Form von Normalität.[33] Obwohl der Ansatzpunkt der These empirisch abgesichert ist, weisen die einzelnen Ergebnisse keine Vergleichbarkeit auf, so dass auch die Habitualisierungsthese - entgegen anderen Meinungen - noch nicht bewiesen ist.[34]

 

4.1.3 Fernsehgewalt - Lernen am Modell

Aus lerntheoretischer Sicht ist der Aufbau violenter Sendungen nahezu optimal:

Denn dass Gewalt erfolgreich ist, sich lohnt, und von Identifikationsfiguren ausgeübt wird, egal auf welcher Seite sie auch stehen, dass Gewalt meist als einzige Möglichkeit der Konfliktlösung angeboten wird, dies gehört zum ständigen Lehrplan vieler Fernsehfilme: „Im Fernsehen werden Handlungsmodelle angeboten, die demonstrieren, wie mit Hilfe illegitimer Mittel (Gewalt) als legitim anerkannte Ziele (Wohlstand, Macht, Prestige, Gerechtigkeit) erreicht werden.“ (Kunczik)

Gewalt wird positiv bewertet, ist simple, leicht wahrzunehmen und zu reproduzieren und gilt vor allem für männliche Figuren als das einzig erfolgreiche Mittel. All dies sind Bedingungen, die das Lernen am Modell und das Lernen am Erfolg – zwei Spielarten der Lerntheorie – als günstig und wahrscheinlich erscheinen lassen und weshalb seriöse Forscher dieser Theorie mit all ihren Versionen die größte Erklärungskraft zubilligen – zumal oder wiewohl sie immer nach neuen unterstützenden wie hemmenden Faktoren suchen.

Nach wie vor bleibt jedoch die Medienrezeption, eine mögliche Stimulation und vor allem jede Lernneigung, von einer fast unendlichen Vielzahl von Faktoren beeinflusst. Dies gilt insbesondere für die Bereitschaft oder den Umstand, das Gelernte in einer vergleichbaren Situation anzuwenden.

Derartige Faktoren sind:

1.      Inhalt

2.      dramaturgische Gestalt

3.      Handlungskontext

4.      Art und Weise der Gewaltdarstellung

Insbesondere aber:

1.      Persönlichkeit des Rezipienten (Alter, Intelligenz, soziale Position/Integration, biographische Erfahrungen, situative Befindlichkeit);

2.      Rezeptionssituation (allein, mit Freunden, Clique, Eltern);

3.      Situation in der das violente Handlungsmodell möglicherweise aktiviert werden soll.[35]

Nach Kuncziks Auffassung, die auch Baacke und Kübler teilen, gilt für das Erlernen von aggressiven Verhalten, dass den größten Einfluss die primäre familiäre Umgebung ausübt. Danach folgt das soziale und kulturelle Umfeld, in dem Aggression erlebt und gelernt wird. Erst an dritter Stelle treten die Massenmedien mit den dargestellten aggressiven Modellen dazu.[36]

 

4.2 Welches Resümee lässt sich ziehen?

Zur Wirkung von medialen Gewaltdarstellungen auf Kinder: Im Bereich der Zeichentrickserien sind sich die meisten Pädagogen einig, dass die dort gezeigte Gewalt kaum negative Auswirkungen hat. Von Kindern werden die in hohem Maße vorkommenden violenten Szenen dabei nicht als gewalttätig angesehen, sondern als lustig klassifiziert.[37] Bevor die meisten Kinder in die Schule kommen, ist ihnen bewusst, dass es sich bei Zeichentrickfilmen um gezeichnete, „nicht echte“ Filme handelt.[38] Ein zentrales Ergebnis von Helga Theunert (1993) zur Wirkung von Gewalt in Cartoons lautet: „Zeichentrickserien sind in der Wertung der Kinder (fast) gewaltfrei, wegen der dort dominierenden 'sauberen', folgenlosen Gewalt.“[39]

In Bezug auf Zeichentrickfilme sind nur bei jüngeren Vorschulkindern Probleme in Form von Furcht aufgetreten, indem sie Inhalte rezipiert haben, die mit besonders emotionalen und Angst einflößenden Themen besetzt waren, wie z.B. Hexerei. Insbesondere die kognitiven Fähigkeiten zur Relativierung und Distanzierung reichen in diesem Alter noch nicht aus, um die Fiktion als solche zu erkennen.[40]

Neben den Zeichentrickfilmen wird in Horrorfilmen, Actionfilmen und -serien ein hoher Anteil an Gewalt gezeigt. Ähnlich wie bei den Zeichentrickserien wird auch hier die Gewalt in Bezug auf das Genre bewertet. In einen „Western“ gehören Schießereien, und in einem „Mantel- und Degenfilm“ gibt es Schwertkämpfe. Serien, in denen violente Handlungen erwartet werden, sind in den Augen vieler Rezipienten nicht oder nur bedingt gewalthaltig. Dass die Gewalt als solche nicht immer wahrgenommen wird, sagt aber nichts darüber aus, ob Inhalte trotzdem gelernt werden.[41]

Die differenzierte Wahrnehmung von Gewalt lässt aber den Schluss zu, dass nur aufgrund der reinen Quantität von Gewaltakten keine Vorhersagen über die Auswirkungen auf die Rezipienten gemacht werden können. Ein reines Zählen von Gewaltakten (70 Morde pro Tag im deutschen Unterhaltungsfernsehen; mehrere Morde in vielen Stücken von Shakespeare) kann zu keinen allgemeingültigen Ergebnissen in der Wirkungsforschung führen, wie z.B.: Je mehr Morde gesehen werden, desto höher ist die Aggressionsbereitschaft oder Abstumpfung.

Das Handlungsumfeld oder Genre der jeweiligen Gewaltakte, sowie die intellektuelle Entwicklung und das soziale Umfeld der jeweiligen Rezipienten, muss zusätzlich berücksichtigt werden.[42]

 

Zusammenfassung der bisherigen Erkenntnisse:

1.      Es gibt keinen Beweis, dass Gewaltfilme vorrangig/ allein Verursacher von Verhaltensauffälligkeiten sind.[43]

ð     Bei der Beurteilung von Medieninhalten und ihrer Wirkung auf den Rezipienten müssen soziale und gesellschaftliche Rahmenbedingungen berücksichtigt werden.[44]

ð     Der Konsum von Gewaltfilmen kann oftmals auch als Indikator für eine fehlgeschlagene Erziehung / ungünstige Erziehungssituation gedeutet werden.[45]

2.      Gewaltdarstellungen tragen nicht zum Abbau von Aggression bei (einziger Widerspruch: Jürgen Grimm (1999) => vgl. 4.1.1)

3.      Die Verstärkung von bereits vorhandenen Einstellungen bzw. Aggression ist wahrscheinlicher als deren Induktion.[46]

4.      Es muss in langfristige und kurzfristige Medienwirkungen unterschieden werden.

5.      Die These der Wirkungslosigkeit wird kaum noch vertreten.

6.      Die Habitualisierungsthese ist aufgrund widersprüchlicher Forschungsergebnisse (Validitätsprobleme) noch nicht bewiesen.

7.      Für die Suggestionsthese (Nachahmungstaten) gibt es Einzelfälle (!) die bekannt sind (z.B. Selbstmorde => Werther-Effekt)

8.      Die Stimulationsthese ist in Form der Alltagstheorie in ihrer Aussagekraft haltlos. „Außer weniger reflexhafter, instinktiver Reaktionen gibt es somit keine einlinigen, monokausale Wirkungen im Sinne physikalischer Gesetzmäßigkeiten.[47]

9.      Es gibt zwei ständige Fehlannahmen:

a.      Unzulässiger Schluss vom Inhalt der Gewaltdarstellungen auf deren Wirkung beim Zuschauer

b.      Forderung der Öffentlichkeit und Politik nach einer generellen Aussage zur Wirkung von Gewaltdarstellungen.[48]

10.    Die Kontextabhängigkeit ist bei der Wirkung der Filmbewertung vorrangig zu würdigen (dramatische Modelle) und nicht einzelne Bilder.[49]

 

Aussagen über die Komplexität der Wirkung der Massenmedien lassen sich auch heute nur mit konditionalen Formulierungen treffen, so dass ein Fazit von Schramm aus dem Jahr 1961 auch heute noch Gültigkeit besitzt:

 

„For some children, under some conditions, or for the same children under other conditions, it may be benefical. For most children, under most conditions, most television is probably neither harmful nor particularly beneficial.“[50]

 

Eine Übersetzung: „Für bestimmte Kinder, unter bestimmten Bedingungen, ist Fernsehen schädlich. Für andere Kinder unter den gleichen Bedingungen oder für die gleichen Kinder unter anderen Bedingungen kann Fernsehen von Vorteil sein. Für die meisten Kinder unter den meisten Bedingungen sind die meisten Fernsehsendungen weder schädlich noch besonders günstig.“ (zit. nach Comdat (Communication Data Research): Darstellung von Gewalt im Fernsehen. Abschlussbericht. Untersuchung im Auftrag von RTL. Münster, 1993, S. 97.)

 

Dieses Fazit kann auch heute noch am Besten die mögliche Wirkung von Gewalt in den Medien beschreiben. Aufgrund dessen kann nicht auf Forderungen der Öffentlichkeit und insbesondere der Politiker eingegangen werden, die eine verallgemeinernde Aussage über die Wirkungsweise von Mediengewalt fordern. Auf einer wissenschaftlich fundierten Basis wird es eine derartige Aussage nie geben können, denn der Wirkungszusammenhang „Rezipient-Medium“ ist so komplex, dass sich wissenschaftlich haltbare Aussagen nur für einzelne Populationen in genau umrissenen Situationen treffen lassen.[51]

 



[1] Bemerkenswert ist, dass diese Gefahren aber nicht bei den eigenen Kindern gesehen werden.

[2] Glogauer im Jahr 1957: „Von manchen Jugendlichen wissen wir, dass sie nach dem Film mitunter in größeren oder kleineren Gruppen meist planlos umherlaufen, zusammengehalten von der gleichen Gefühlsbestimmtheit, (...) die Wirkung des Films (vermag) zur Begründung strukturierter jugendlicher Bandengruppen führen.“ (zitiert nach Schorb, Bernd: Medienalltag und Handeln. 1995, S.35.)

[3] vgl. Vowe, Gerhard/ Friedrichsen, Mike: Wie gewalttätig sind die Medien? Ein Plädoyer für differenzierte Antworten. In: Vowe/Friedrichsen (Hrsg.): Gewaltdarstellungen in den Medien. Opladen, 1995. S. 7ff.

[4] vgl. Kübler, Hans-Dieter: Mediengewalt. Sozialer Ernstfall oder medienpolitischer Spielball?. In: Vowe/Friedrichsen (Hrsg.): Gewaltdarstellungen in den Medien. Opladen, 1995. S. 79.

[5] vgl. Vowe, Gerhard/ Friedrichsen, Mike: Wie gewalttätig sind die Medien? Ein Plädoyer für differenzierte Antworten. In: Vowe/Friedrichsen (Hrsg.): Gewaltdarstellungen in den Medien. Opladen, 1995. S. 9.

[6] Glogauer, Werner: Die neuen Medien verändern die Kindheit. Nutzung und Auswirkungen des Fernsehens, der Videospiele, Videofilme u.a. bei 6- bis 10-jährigen Kindern und Jugendlichen. Weinheim 1993, S. 121.

[7] Glogauer, Werner: Delinquenz Heranwachsender durch Medieneinflüsse. Ergebnisse einer Studie. In: Zeitschrift der Rechtspolitik, 23/10, S. 377.

[8] vgl. Vowe, Gerhard/ Friedrichsen, Mike: Wie gewalttätig sind die Medien? Ein Plädoyer für differenzierte Antworten. In: Vowe/Friedrichsen (Hrsg.): Gewaltdarstellungen in den Medien. Opladen, 1995. S. 9.

[9] vgl. Kunczik: Gewalt und Medien. 1998, S. IX.

[10] Moser, Heinz: Einführung in die Medienpädagogik. Aufwachsen im Medienzeitalter. Opladen 1995, S. 107.

[11] zitiert nach Kunczik: Gewalt und Medien. 1998, S. 274.

[12] Theunert, Helga: Wirkung. In: Hüther/Schorb/Brehm-Klotz (Hrsg.): Grundbegriffe Medienpädagogik. München 1997, S. 361.

[13] vgl. Moser, Heinz: Einführung in die Medienpädagogik. Aufwachsen im Medienzeitalter. Opladen 1995, S. 109.

[14] Klaus Neumann/Michael Charlton: Strukturanalytische Rezeptionsforschung. Theorie, Methode und Anwendungsbeispiele. In: Baacke/Kübler (Hrsg.): Qualitative Medienforschung. Konzepte und Erprobungen. Tübingen 1989, S. 183.

[15] Friedrichsen, Mike: Grundlagen und Perspektiven der Gewalt-in-den-Medien-Forschung. In: Vowe/Friedrichsen (Hrsg.): Gewaltdarstellungen in den Medien. Opladen 1995. S. 404.

[16] vgl. Aufenanger, Stefan: Wie Kinder und Jugendliche Gewalt im Fernsehen verstehen. In:

Vowe/Friedrichsen (Hrsg.): Gewaltdarstellungen in den Medien. Opladen, 1995. S. 228.ff.

[17] vgl. Charlton, Michael: Rezeptionsforschung als Aufgabe einer interdisziplinären Medienwissenschaft. In: Charlton/Schneider (Hrsg.): Rezeptionsforschung. Theorien und Untersuchungen zum Umgang mit Massenmedien. Opladen 1997, S. 24.

[18] Groebel, Jo: Erlebnisse durch Medien. Reizsuche in der Realität und in der Fiktion. In: Kaase/Schulz (Hrsg.): Massenkommunikation. Sonderheft der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie. Opladen 1989. S. 353.

[19] vgl. Schorb, Bernd: Medienalltag und Handeln. 1995, S. 162ff.

[20] vgl. Schorb, Bernd: Medienalltag und Handeln. 1995, S. 149.

vgl. Helga Theunert: Gewalt. In: Hüther/Schorb/Brehm-Klotz (Hrsg.): Grundbegriffe Medienpädagogik. München 1997, S. 133.

[21] vgl. Kunczik: Gewalt und Medien. 1998, S. 45ff.

[22] Aufenanger, Stefan: Wie Kinder und Jugendliche Gewalt im Fernsehen verstehen. In: Vowe/Friedrichsen (Hrsg.): Gewaltdarstellungen in den Medien. Opladen, 1995. S. 230ff.

[23] Glogauer, Werner: Delinquenz Heranwachsender durch Medieneinflüsse. Ergebnisse einer Studie. In: Zeitschrift der Rechtspolitik, 23/10, S. 377.

[24] zitiert nach Kunczik, Michael: Wirkungen von Gewaltdarstellungen. In: Vowe/Friedrichsen (Hrsg.): Gewaltdarstellungen in den Medien. Opladen 1995. S. 126.

[25] In einem Leserbrief (Der Spiegel 1992, Nr. 8, S.11) weist Glogauer diese Behauptung offiziell zurück. An dieser Tatsache hält er aber weiter fest: Die Behauptung, Zusammenhänge zwischen brutalen Mediendarstellungen und realen Gewalttaten seien wissenschaftlich nicht nachgewiesen stehe „im krassen Gegensatz zu den Befunden aus dreißigjähriger Medienwirkungsforschung“ (Glogauer 1993)

[26] vgl. Kunczik: Gewalt und Medien. 1998, S. 15.

[27] vgl. Kunczik: Gewalt und Medien. 1998, S. 67 ff.

[28] vgl. Grimm, Jürgen: Fernsehgewalt. Zuwendungsattraktivität, Erregungsverläufe, Sozialer Effekt. Zur Begründung und praktischen Anwendung eines kognitiv-psychologischen Ansatzes der Medienrezeptionsforschung am Beispiel von Gewaltdarstellungen. Opladen 1999, S. 706ff.

[29] vgl. Grimm, Jürgen: Fernsehgewalt. Zuwendungsattraktivität, Erregungsverläufe, Sozialer Effekt. Opladen 1999, S. 721.

[30] vgl. Grimm, Jürgen: Fernsehgewalt. Zuwendungsattraktivität, Erregungsverläufe, Sozialer Effekt. Opladen 1999, S. 722.

[31] vgl. Kunczik: Gewalt und Medien. 1998, S. 85 ff.

[32] Kunczik: Gewalt und Medien. 1998, S. 109.

[33] vgl. Bohrmann: Ethik-Werbung-Mediengewalt: Werbung im Umfeld von Gewalt im Fernsehen. 1997, S. 180.

[34] vgl. Kunczik: Gewalt und Medien. 1998, S. 114.

[35] vgl. Kübler, Hans-Dieter: Mediengewalt. Sozialer Ernstfall oder medienpolitischer Spielball?. In: Vowe/Friedrichsen (Hrsg.): Gewaltdarstellungen in den Medien. Opladen, 1995. S. 97 ff.

[36] vgl. Baacke: Medienpädagogik. 1997, S. 86.

vgl. Kunczik: Gewalt und Medien. 1998, S. 273 ff.

[37] vgl. Kunczik: Gewalt und Medien. 1998, S. 56.

[38] vgl. Petersen: Cartoons. In: Hüther/Schorb/Brehm-Klotz (Hrsg.): Grundbegriffe Medienpädagogik. München 1997, S. 55.

[39] zitiert nach: Amend/Karola: Für Kinder die Nummer 1: Zeichentrick. 1997, http://www.lbw.bwue.de/kamend.html, Stand: 10.1.1999.

[40] vgl. Petersen: Cartoons. In: Hüther/Schorb/Brehm-Klotz (Hrsg.): Grundbegriffe Medienpädagogik. München 1997, S. 55.

[41] vgl. Kunczik: Gewalt und Medien. 1998, S. 55.

[42] vgl. Kunczik: Gewalt und Medien. 1998, S. 56.

[43] vgl. Kübler, Hans-Dieter: Mediengewalt. Sozialer Ernstfall oder medienpolitischer Spielball?. In: Vowe/Friedrichsen (Hrsg.): Gewaltdarstellungen in den Medien. Opladen, 1995. S. 97.

[44] Friedrichsen, Mike: Grundlagen und Perspektiven der Gewalt-in-den-Medien-Forschung. In: Vowe/Friedrichsen (Hrsg.): Gewaltdarstellungen in den Medien. Opladen, 1995. S. 400.

[45] vgl. Kübler, Hans-Dieter: Mediengewalt. Sozialer Ernstfall oder medienpolitischer Spielball?. In: Vowe/Friedrichsen (Hrsg.): Gewaltdarstellungen in den Medien. Opladen, 1995. S. 97.

[46] Friedrichsen, Mike: Grundlagen und Perspektiven der Gewalt-in-den-Medien-Forschung. In: Vowe/Friedrichsen (Hrsg.): Gewaltdarstellungen in den Medien. Opladen, 1995. S. 399.

[47] Kübler, Hans-Dieter: Mediengewalt. Sozialer Ernstfall oder medienpolitischer Spielball?. In: Vowe/Friedrichsen (Hrsg.): Gewaltdarstellungen in den Medien. Opladen, 1995. S. 98.

[48] vgl. Kunczik: Gewalt und Medien. 1998, S. 273.

[49] vgl. Grimm, Jürgen: Fernsehgewalt. Zuwendungsattraktivität, Erregungsverläufe, Sozialer Effekt. Opladen 1999, S. 721.

[50] zitiert nach Kunczik: Gewalt und Medien. 1998, S. 186.

[51] Kunczik: Gewalt und Medien. 1998, S. 273.

 

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